In Kassel, der Stadt, in der die Brüder Grimm zuhause waren und wo sogar die S-Bahn Rapunzel heißt, brechen wir zum Herkules-Monument auf. Wir können Herkules von meiner Wohnung aus sehen, oder zumindest seine Pyramide, auf der er thront. Das alles ist aber noch ein fernes Versprechen. Durch den Campus Holländischer Platz, und dann die Königsstraße entlang. Wir sind halbwegs früh aufgebrochen, doch schon jetzt ist es warm. Wieso sind wir schwarz angezogen? Und wieso nehmen wir eigentlich nicht die Rapunzel, sondern laufen? Vorbei an Baustellen, um die Kurve und wir sind auf der Wilhelmshöher Allee. Eine lange, gerade Straße, streng nach Osten ausgerichtet. Die Morgensonne, der wir entgegenlaufen, scheint uns auf den Kopf. Wir laufen und laufen. Auf einer der längsten Stadtstraßen Deutschlands unterwegs. „Kälbchen, Kälbchen, knie nieder, vergiß nicht deine Hirtin wieder, wie der Königssohn die Braut vergaß, die unter der grünen Linde saß“, steht auf einem Haus, daneben eine Bauersfrau gemalt. Daneben Jacob und Wilhelm Grimm. Profil, natürlich. Wir passieren den Bahnhof Wilhelmshöhe und sind dann endlich im Grünen. Der Bergpark Wilhelmshöhe ist UNESCO-Welterbe. Er ist „einzigartiges Zeugnis europäischer Bau- und Gartenkunst“, wie der Flyer verspricht, den wir im Info-Center bekommen, und wurde tatsächlich schon im 17. Jahrhundert angelegt. Es ist ein Sommertag wie im Märchen. Und unser Ausflug ein Sonntagsvergnügen, wie es Damen vor 200 Jahren auch erlebt haben müssen. Wir stellen uns vor, wie sie in weißen Kleidern durch die Parkanlagen flanieren; die dazugehörigen Herren in festlichen Anzügen tragen die Sonnenschirme. Vielleicht so wie bei Monet. Die Besucher – sie haben diese Imagination geweckt – tragen weiß. Nur wir nicht. Kleine Figuren, die über die Wiesen spazieren, und die wie wir den Aufstieg wagen. Die Bäume spendieren ein wenig Schatten, und steinerne Treppen führen zu romantischen Bauwerken. Die Felsen, bewachsen mit Moos und Pflanzen. Wir erreichen das Schloss Wilhelmshöhe, einstmalige Sommerresidenz preußischer Könige und deutscher Kaiser. Von hier hat man einen wunderbaren Blick auf die langläufige Kaskadenanlage. Es soll hier auch Wasserspiele geben, aber jetzt ist alles unbewegt. In perfekter Symmetrie sind Blumen auf dem Rasen gepflanzt, ein weißer Pavillon schlummert inmitten der Bäume. Treffpunkt für ein zartes Tête-à-Tête in früheren Zeiten? Herkules kommt näher. Wir kommen am Aquädukt vorbei, an der Teufelsbrücke, wollen aber nicht verweilen. Immer wieder sind Seen in die Landschaft gewürfelt, doch das Wasser ist trüb. Wir wollen jetzt hoch. Ohne Stock und Hut, Schweißperlen auf der Stirn, immer den Berg rauf. Endlich – die Neptun-Grotte! Ein Zentaur leistet dem Gott Gesellschaft. Und dann Stufen. 885 lange Stufen.
Die Aussicht von oben war jede Mühe wert. Herkules, der sich, die drei Äpfel der Hesperiden in seiner rechten Hand hinter dem Rücken versteckt haltend, nachdenklich auf seine Keule stützt, ist mit Nägeln zusammengeflickt – was ist geschehen? Wir gehen kopfschüttelnd Kuchen essen und stürzen gierig Apfelschorle herunter.
Der Abstieg birgt eine Überraschung. Scharen von Menschen belegen nun die Parkanlage. Wir verdrücken uns zum Steinhöfer Wasserfall – und lesen da, dass heute tatsächlich die Wasserspiele stattfinden. Auch wenn wir den Sturzbach vom Herkules-Monument hinab verpasst haben, sind wir hier rechtzeitig angekommen. Wir warten. Die Menschenmasse kommt vor dem Wasser, mit ihr ein moderner Neptun, der anstelle eines Dreizacks ein Walkie-Talkie trägt. Ob er damit das Wasser beschwören wird? Auf jeden Fall kommt es, fließt bald darauf in der Sonne glitzernd und gleißend die Steinstufen hinab und kühlt unsere erhitzten Gesichter. Ein Traum. Auch unter der Teufelsbrücke rauscht nun der Wasserfall und ein langer Strahl ergießt sich vom Aquädukt ins Tal. Den krönenden Abschluss bildet die 50 Meter hohe Fontäne vor Schloss Wilhelmshöhe. Dort sitzen wir im Gras und beobachten den künstlichen Geysir und seinen silbrigen Schleier von Wasser, den er sanft über dem See ausbreitet wie ein Seidentuch. Was der Mensch nicht alles schaffen kann. Wir beglückwünschen uns zu diesem hervorragenden Ausflug und unserer hervorragenden Freundschaft und sind sehr glücklich.
Kassel – das war erst der Anfang.
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
(C. F. Meyer)